Bereits zu ihrer Zeit als Leiterin der Opferberatungsstelle Backup fiel Claudia Luzar, Sozialwissenschaftlerin und gerne zitiert „Expertin“ in Sachen Extremismus, durch zweifelhafte offene Briefe und fehlende Abgrenzung von Opferbetreuung und Täterarbeit auf. Nach ihrem Abgang aus Dortmund hat sie nun offenbar eine neue Beschäftigung in Hamm gefunden, wo sie eine neues Projekt für „Trainings- und Beratungsmethoden zur Deradikalisierung und Ausstiegshilfe“ leiten soll.
Die Kritik am Zustandekommen dieser Stelle durch die örtlichen Antifaschist_innen und Politiker der Opposition beschreibt die Lotta in ihrer aktuellen Ausgabe:
Am 23. Februar 2015 stellten Claudia Luzar und Co-Autorin Nina Lohmann erstmals ihr eigentlich für Herbst 2014 angekündigtes Gutachten mit dem Titel „Hammer Verhältnisse. Eine Analyse zum Radikalismus und sozio-kulturellen Konflikten“ in der Sitzung des Kinder- und Jugendhilfeausschuss der Öffentlichkeit vor. Das Gutachten war im Februar 2013 in Auftrag gegeben worden, nachdem der Kinder- und Jugendhilfeausschuss ein „Handlungskonzept gegen Rechtsextremismus“ der Stadtverwaltung abgelehnt hatte, weil es nach Ansicht der Politiker_innen von SPD, „Die Linke“ und „Grünen“ das Neonazi-Problem in Hamm verharmlose.
Roland Koslowski, Ratsherr der Partei „Die Linke“ im Hammer Stadtrat, ist sauer, wenn er auf die Sitzung am 23. Februar zurückblickt: „Das Vorgehen der Verwaltung ist eine Unverschämtheit, nicht demokratisch und eher Gutsherrenart.“ Direkt im Anschluss an das Referat von Luzar sollte der Ausschuss über eine Beschlussvorlage der Verwaltung abstimmen. Deren Inhalt: die Bewilligung eines städtischen Eigenanteils von 157.080 Euro, mit dem die Arbeit des neu zu schaffenden Projektes „No Trouble! Trainings- und Beratungsmethoden zur Deradikalisierung und Ausstiegshilfe“ beim Deutschen Roten Kreuz Kreisverband Hamm e.V. bezuschusst werden sollte.
Der städtische Eigenanteil ist Voraussetzung dafür, dass das bis 2019 laufende „Modellprojekt“ aus den Mitteln des Bundesprogramms „Demokratie leben!“ gefördert werden kann. Das Bundesprogramm stellt dabei den Löwenanteil, nämlich 80 Prozent der mit 785.000 Euro veranschlagten Summe.
Doch die Mitglieder des Ausschusses wurden vor der Sitzung nur unzureichend informiert. Nach Angaben von Koslowski erhielten sie das 98-seitige Gutachten lediglich als Tischvorlage, die Beschlussvorlage wurde ihnen erst am Tag der Sitzung vorgelegt. Eine gründliche Auseinandersetzung mit dem Gutachten und dem in der Beschlussvorlage skizzierten Projekt „No trouble!“ war ihnen also nicht möglich.
Dennoch stimmten die Mitglieder geschlossen für die Vorlage der Verwaltung, auch weil man, so Koslowski, das Gefühl hatte, nicht gegen ein Programm gegen Rechtsextremismus stimmen zu können. Erst nachdem die Entscheidung gefallen war, äußerten „Die Linke“ und „Die Grünen“ deutliche Kritik.
Geschicktes Timing
Wenige Tage nach der Sitzung des Kinder- und Jugendhilfeausschusses wurde der Antrag für „No trouble!“ endgültig bewilligt. „Der Zuwendungsbescheid an den Träger wurde am 26.02.2015 erstellt und per Post versandt“, teilt das für das Bundesprogramm „Demokratie leben!“ verantwortliche Bundesfamilienministerium auf Anfrage der LOTTA mit. Es drängt sich der Verdacht auf, dass die Stadtverwaltung absichtlich einen Zeitplan erstellte, der eine öffentliche Diskussion über die Sinnhaftigkeit des Projektes „No trouble!“ verhinderte, bis die Entscheidung beim Bundesfamilienministerium gesichert war.
Ebenfalls nicht zufällig wurden das Gutachten und die Beschlussvorlage für „No Trouble!“ in der gleichen Sitzung behandelt: Luzar empfiehlt in ihrem Gutachten nämlich ausdrücklich die Einrichtung einer „Fachstelle zur Förderung von Deradikalisierungsprozessen“. Und die Stadtverwaltung nutzt das Luzar-Gutachten als Legitimation. So heißt es in der bereits erwähnten Beschlussvorlage: „Das Extremismus-Gutachten des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld empfiehlt als Maßnahme für die Jugendhilfe ein Ausstiegsprojekt für extremistische und radikalisierte Jugendliche. Die Verwaltung greift die Projektempfehlung auf und empfiehlt eine Kofinanzierung des Projektes ‚No Trouble!‘.“
Anders als in der Beschlussvorlage formuliert, war das „Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung“ (IKG) nicht an der Erstellung des Gutachtens beteiligt. Institut-Leiter Andreas Zick erklärte auf Anfrage der LOTTA: „Frau Luzar ist schon länger nicht mehr Mitarbeiterin des IKG. Wir kennen das Gutachten nicht und können das gar nicht beurteilen.“ Die Verantwortung für das Gutachten „Hammer Verhältnisse“ tragen demnach alleine die beiden Autorinnen.
Noch in der Ausschusssitzung am 23. Februar teilte Jugendamtsleiter Raoul Termath auf Nachfrage mit, wer die geschaffene Stelle als „wissenschaftliche Leitung“ bei „No Trouble!“ besetzen wird:„Ich freue mich, dass es uns gelungen ist, Frau Luzar für diese Aufgabe zu gewinnen.“ Am 1. März trat Luzar ihren neuen Job an.
Ein fragwürdiges Gutachten
Das vorgelegte Gutachten erfüllte nicht die Erwartungen. So kritisieren „Die Grünen“, dass das Untersuchungsthema eigenhändig erweitert wurde, ohne dass dazu der Beschluss eines städtischen Gremiums eingeholt worden sei: Aus einer Themenstellung, „die ursprünglich gegen Rechtsradikalismus gerichtet war“ sei am Ende eine Analyse geworden, „die ausdrücklich auch Linksradikalismus und religiösen Extremismus in gleicher Weise in den Fokus rückt.“ Dabei habe der Rat damals einen Ergänzungsantrag von Gerald Thörner (pro NRW) mit 57 gegen eine Stimme abgelehnt, der forderte, nicht nur die „Opfer rechter Gewalt“, sondern ebenso „linke Gewalt und Ausländergewalt“ zu behandeln, so „Die Grünen“.
Tatsächlich nimmt in dem vorgelegten Gutachten „die Antifa“ breiten Raum ein. Ihr werfen die Autorinnen vor, gewalttätig zu sein und sehen in einem dadurch entstandenen „Links-Rechts-Konflikt“ den Grund für die Gewalt der Neonazi-Szene. Zudem sei der ebenfalls der Antifa zugeschrieben „radikal geführte Protest gegen Rechtsextremismus eine der Ursachen für die Passivität der restlichen Zivilgesellschaft“.
„Insgesamt ist es bezeichnet, wie viel Raum der Kritik an der Antifa in einem ‚Gutachten‘ zum Rechtsextremismus in Hamm eingeräumt wird und wie oft die Forderung nach Ausgrenzung der Antifa aus den zivilgesellschaftlichen Bündnissen gefordert wird“, bilanziert das antifaschistische Jugendbündnis „Haekelclub590“ in einer ausführlichen Stellungnahme zum Gutachten.
Luzar und Lohmann behaupten, dass die „Einbindung der gewaltbereiten Antifa über den Haekelclub und die SPD am Runden Tisch“ zu einer „überladenen selbstreferentiellen Auseinandersetzung“ führe, „die dieses Gremium blockiert und oftmals handlungsunfähig macht“. Von den „demokratischen Akteuren im Haekelclub“ wird gefordert, „ihre Position zum gewaltbereiten Arm der autonomen Antifa [zu] klären und eventuelle notwendige Abgrenzungen [zu] verdeutlichen“. Die Autorinnen dämonisieren die Antifa als „gewaltbereit“ und „extremistisch“. Stichhaltige Belege für ihre Thesen liefern sie jedoch nicht.
Nicht nach wissenschaftlichen Maßstäben
Auch über die Hammer Neonazi-Szene wird in dem der LOTTA vorliegenden Gutachten wenig Substanzielles geschrieben: Die Autorinnen stützen sich vor allem auf die Äußerungen von aktiven oder „ausgestiegenen“ Neonazis, mit denen sie Interviews geführt haben wollen. Die Deutungen der Neonazis bleiben meist unwidersprochen, sie werden nicht durch Fachliteratur, Medienberichte oder andere Interviews kontextualisiert. Eine Quellenkritik ist an vielen Stellen nicht erkennbar, weil die von den Interviewten angeführte „Tatsachen“ nicht überprüft werden.
Dies führt zur erheblichen Verzerrungen. Das bemängelt auch der „Haekelclub590“, der dem Gutachten eine „tendenzielle Verharmlosung der Neonazis“ bescheinigt. Wichtige Aspekte wie die Einbindung der Hammer Neonazis in landes- und bundesweite Vernetzungen, die große Zahl brutaler Gewalttaten, die RechtsRock-Szene oder die Rolle von Frauen werden gar nicht behandelt.
Schwerer als diese inhaltlichen Unzulänglichkeiten wiegen aber die methodischen Schwächen der Arbeit: Der „empirische Befund“ soll auf „52 qualitativen Interviews“ und „24 teilnehmenden Beobachtungen“ basieren. Zu diesen Interviews und Beobachtungen finden sich keinerlei weitere Informationen als die Aussage, dass „demokratische Akteure der Stadtgesellschaft“ und „rechtsextreme Personen“ befragt worden seien. Wer interviewt wurde, ist ebenso intransparent wie die angewandten Methoden der Interviewerhebung und -auswertung. Es fehlen selbst grundlegende Informationen wie Geschlecht, Alter, Tätigkeits- bzw. Arbeitsfeld der interviewten Personen, ebenso eine Auflistung der Fragekomplexe.
An keiner einzigen Stelle wird aus den Interviews wörtlich zitiert, ebenso fehlen die Belege für indirekte Zitate. Im Literaturverzeichnis werden die Interviews auch nicht aufgeführt. Damit unterlaufen die Autorinnen sämtliche Standards wissenschaftlichen Arbeitens. Kurz: Sie haben keine wissenschaftliche empirische Arbeit vorgelegt.
Die „Deradikalisierung“ von Jugendlichen
Über die genaue Ausgestaltung des Projektes „No trouble!“ ist bislang nur wenig zu erfahren. Das Bundesfamilienministerium schickte auf Anfrage nur die folgende Kurzbeschreibung des Projektes: „Das Hauptziel des Modellprojekts ist die Deradikalisierung und soziale Integration von Jugendlichen. Bewährte (d.h. möglichst evidenzbasierte) Methoden der Arbeit mit straffälligen Jugendlichen werden auf das Feld der Radikalisierungsprävention übertragen und dort weiterentwickelt. Mittels einer Manualisierung von Interventionsmöglichkeiten in idealtypischen Situationen, im Rahmen eines Praxishandbuchs, wird der Erfahrungsschatz aus dem Projekt einer breiteren Fachöffentlichkeit zugänglich gemacht.“
Das sind große, effektheischende Worte, die in der Kurzform besagen, dass das Projekt sich „radikalisierende“ Jugendliche von ihren „radikalen“ Vorstellungen und Praktiken abbringen will. Am Ende soll ein „Praxishandbuch“ erstellt werden, dass die Methoden und Erfahrungen zusammenfasst. Wann ein Jugendlicher „radikal“ ist und wie sich dessen „Radikalität“ konkret ausdrückt, ist erst einmal unbestimmt.
Aus dem Gutachten von Luzar und Lohmann wird aber deutlich, dass mit den „radikalen“ Jugendlichen nicht nur Neonazis, sondern ebenso Salafist_innen, türkische Nationalist_innen und sogar Antifaschist_innen gemeint sind. Dass sich deren vermeintliche „Radikalität“ aber grundlegend von einander unterscheidet, weil sie auf anderen, sich gegenseitig ausschließenden Werten und Idealen basiert und eine grundverschiedene politische und soziale Praxis zur Folge hat, wird nicht berücksichtigt. Stattdessen werden sie als „Radikalisierte“ gleichgesetzt. Letztlich feiert die Extremismustheorie hier – ebenso wie in den Förderrichtlinien des Bundesprogramms – unter dem neuen Label „Deradikalisierung“ ihre Auferstehung.
Die Zielgruppe des Projekts sollen laut Beschlussvorlage „vor allem junge Menschen aus Hamm mit beginnender extremer Orientierung und Radikalisierung, die erstmals straffällig wurden“, sein. Dies ist insofern logisch, als dass „No trouble!“ Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe anbietet, von der Erwachsene ausgenommen sind. Darin zeigt sich aber deutlich die Beschränkung des Projektes, besonders in Hinblick auf die Neonazi-Szene in Hamm, deren Protagonist_innen in der Mehrzahl keine Jugendlichen mehr sind.
Die Zielgruppe soll auf drei Wegen erreicht werden. Erstens sollen die Maßnahmen von „No trouble!“ vom Jugendrichter verhängt werden. Zweitens will man inhaftierte Jugendliche, die kurz vor der Entlassung stehen, über die sozialen Dienste der Justiz ansprechen. Drittens will man Jugendliche über die Institutionen der Jugendarbeit und Jugendhilfe in Hamm erreichen. Während auf den ersten beiden Wegen die Maßnahme zwangsweise verordnet wird, ist im letzten Fall vollkommen unklar, warum sich ein „radikaler“ Jugendlicher freiwillig an einer „Deradikalisierungsmaßnahme“ beteiligen sollte.
Zu den pädagogischen Prämissen der konkreten Arbeit mit den Jugendlichen finden sich keinerlei Angaben. Insgesamt ist das Projekt von einem individualistischen Perspektive geprägt, die gesellschaftlichen Bedingungen, die den Neonazismus in seiner Entstehung und Ausbreitung begünstigen, ausblendet.
Sondersitzung des Stadtrats angekündigt
Am 23. März wird sich auf Antrag der „Grünen“ der Rat der Stadt Hamm in einer Sondersitzung mit dem Vorgehen der Verwaltung beschäftigen. „Linken“-Politiker Koslowski beschränkt seine Kritik nicht nur auf den Oberbürgermeister und die CDU: „Wir haben in Hamm eine Große Koalition und somit einen Koalitionsausschuss und genau dort werden alle Entscheidungen getroffen.“ Auch in den Reihen des Koalitionspartners SPD war Kritik am Gutachten geäußert worden, fraglich ist aber, ob die Sozialdemokraten bereit sind, ihre Unterstützung für das „Deradikalisierungsprojekt“ zu überdenken.