In den vergangenen Monaten fanden in Dortmund eine Reihe von Demonstrationen gegen das Vorgehen des israelischen Militärs im Gazakrieg statt. Die Veranstaltenden kommen aus durchaus unterschiedlichen politischen Spektren: Islamist*innen, die palästinensische Gemeinde und linke Gruppen gehen zu dem Thema, teilweise gemeinsam, teilweise getrennt, auf die Straße. Geeint sind die Demonstrierenden in ihrer Perspektive auf den Konflikt: An allem seien Israel und seine Verbündeten schuld. Die übergreifende Klammer dieser Demonstrationen ist eine einseitige Verurteilung und Skandalisierung des israelischen Vorgehens, das für die Demonstrant*innen teils aus dem heiteren Himmel zu kommen scheint, teils von vorneherein skandalös ist, weil es den „Skandal“ der Existenz eines israelischen Staates nur fortsetzt.
Eine besonders bemerkenswerte Veranstaltung spielte sich im Juli (20.07.2024) in der Dortmunder Innen- und Nordstadt ab. Eine Reihe linker Gruppen aus dem palästinasolidarischen und linksautoritären Spektrum rief zur „Free Palestine“-Demo gegen einen angeblich seit 1948 andauernden Völkermord Israels an den Palästinenser:innen auf. Damit war der Tenor gesetzt und die etwa 100 teilnehmenden Demonstrierenden lieferten Entsprechendes.
Mit der Frage, ob es möglicherweise fragliche oder abzulehnende Auswüchse im Vorgehen der bewaffneten palästinensischen Organisationen geben könnte, mochten sich die Redner*innen, die während der Startkundgebung das Mikrofon ergriffen, erst gar nicht aufhalten. „Eine Solidarisierung mit Palästina geht nämlich nicht ohne eine Solidarisierung mit dem Widerstand. […] Es ist das Recht jeden unterdrückten Volkes, seine Kampfform selbst zu wählen“, hieß es in der Eröffnungsrede des Revolutionären Jugendbundes. Massaker an den Besucher*innen des Nova-Festivals, monatelange und andauernde Geiselnahme, Vergewaltigungen und Misshandlungen? All das war den Redner*innen nicht mal eine Randnotiz wert. Im Gegenteil, es wird als Teil der wählbaren Widerstandsformen legitimiert.
Gleiches wurde in der darauf folgenden Rede eines „Roten Bund“ vertreten, dessen Redner*in ebenfalls deutlich wurde: „Wir sagen es sehr klar. Dieser Völkermord endet erst, wenn die Besatzung vollständig von jedem Zentimeter palästinensischen Boden vertrieben wurde“. Weiter wird erklärt, dass die „Staatsgründung Israels vor 76 Jahren, mit der die Besatzung Palästinas begonnen hat“ das ist, was er*sie mit Besatzung meint. Was der Rote Bund dem Staat Israel vorwirft, ist tatsächlich eine Projektion des eigenen Programms: Konfliktlösung durch ethnische Säuberung.
Dabei wird nicht nur eine bemerkenswerte Ignoranz für den historischen Kontext der israelischen Staatsgründung deutlich, im Angesicht der jahrhundertelangen Verfolgung von Jüdinnen und Juden, unmittelbar nach ihrem grausigen Höhepunkt in der Shoa, und dass die Reaktion der umliegenden arabischen Staaten auf die Staatsgründung eine Kriegserklärung und damit der Versuch eben jener Vertreibung war, die der Rote Bund Israel umgekehrt unterstellt. Es wird auch ignoriert, dass der Staat Israel gegen den weltweit grassierenden Antisemitismus ein Schutzversprechen für Jüdinnen und Juden setzt, dass aktuell niemand sonst bereit oder in der Lage ist, zu leisten.
Es folgt die ewige Leier eines Antiimperialismus, in der Imperialist*innen immer nur die sind, die den Interessen des aktuellen Solidaritätsobjekts zuwiderlaufen: „Israel wird militärisch, wirtschaftlich und politisch von hier unterstützt. Genauso wie aus Washington, London und Paris. Sie halten fest an Israel, weil der israelische Staat nützlich ist für ihre finsteren Pläne und Interessen, die sie in der Region gegen die unterdrückten Völker durchsetzen wollen“. Für eine Betrachtung der imperialistischen Interessen der Staaten, die bewaffnete Gruppen in Palästina unterstützen, fehlte vielleicht die Zeit, vermutlich aber eher das Interesse. Immerhin wäre dafür eine Analyse vonnöten und nicht die Rezitation von Glaubenssätzen.
Hoffnung ist aber für den Roten Bund und dessen Redner*in in Sicht: Nationale Befreiungsbewegungen werden es richten. „Von dem Widerstand in Gaza, der gegen die Besatzung kämpft, bis zu den Menschen in Kongo, die im Abbau von Lithium zu Sklavenarbeit gezwungen werden. Von den Kämpfen der Indigenen in Lateinamerika bis zur demokratischen Revolution in Indien. Denn der Kampf für nationale Befreiung hört nicht dabei auf, dass wir gegen die Besatzung kämpfen“.
Von den zahlreichen Enttäuschungen, die linke Solidaritätsbewegungen erlebt haben, die dachten, dass der Nationalismus ihrer Hoffnungsträger*innen schon verschwinden wird, wenn die Befreiung erst da ist, macht sich der Rote Bund frei und versucht es auf ein Neues. Dass zu ihrer Schlussparole „Es lebe der nationale Widerstand Palästinas“ Dortmunder Neonazis nicht nur mitmarschieren könnten, sondern das in der Vergangenheit bereits getan haben, mag dem Roten Bund nicht bewusst sein – ob es sie stören würde, ist unklar, hat doch ihnen zufolge jedes unterdrückte Volk das Recht, seinen Widerstand selbst zu wählen.
Besonderes Lob fand der Rote Bund für das „jemenitische Volk“, dass „die Imperialisten zum Teufel gejagt“ habe. Gemeint ist hier vermutlich der Teil der unter der Herrschaft der Ansar Allah lebt, einer schiitischen Bürgerkriegspartei im Jemen, deren Wahlspruch neben Todeswünschen gegen USA und Israel auch den Ausruf „Verdammt seien die Juden“ enthält und die erst im Februar dutzende Angehörige eben dieses „jemenitischen Volkes“ wegen des Vorwurfs der Homosexualität zu Auspeitschen, Haft- und Todesstrafen verurteilt hat.
Bei den Teilnehmenden jedenfalls fanden diese Thesen Zustimmung, beide Reden wurden mit Applaus bedacht, Unmutsbekundungen vor Ort oder im Nachgang sind uns nicht bekannt. Die alten antisemitischen Erzählungen vom Kindsmord fehlten bei den Parolen ebensowenig wie die Beschwörung des Untergangs Israels.
Die Demonstration vom 20. Juli markiert den inhaltlichen Höhepunkt einer Reihe von antisemitischen Aufmärschen in Dortmund. Offen geäußerte Vertreibungswünsche, Legitimation von Massakern, eine von nationalistischer Begeisterung triefende Projektion der eigenen Revolutionswünsche in die islamistischen Mörder der Hamas andere Terrorbanden waren Kerninhalt dieser linken Gruppen, fanden sich aber auch in unterschiedlicher Intensität bei vorangegangenen Demonstrationen.
Kern der Veranstaltung vom 20. Juli war ein Antisemitismus, in dem an Israel als „Nationalstaat des jüdischen Volkes“ konsequent andere Standards angelegt werden als an andere nationale Akteure. Speziell gegen seine Kriege können weltweit Menschenmassen mobilisiert werden, die gegen anderes Unrecht, echt oder vermeintlich, nicht erreichbar sind. Gegen ihn ist „jede Form des Widerstands“ legitim, während seine Handlungen grundsätzlich nur illegitim sein können. Seine Handlungen sind nicht etwa die eines kapitalistischen Staats in der nationalen Konkurrenz mit anderen, nein, wenn es um den Staat Israel geht, wird von finsteren Plänen geraunt, der Kindsmord und Genozid seien ihm zu eigen, folgt man den Demonstrierenden vom 20. Juli. Das zweifelhafte Prädikat der „nationalen Befreiungsbewegung“ bleibt dem dämonisierten Israel verwehrt. Den Demonstrierenden geht es im Kern darum, nicht über das Wie und Warum des Konflikts reden zu müssen. Stattdessen zielt ihre Argumentation darauf ab, den Staat Israel grundsätzlich zu delegitimieren. Die Gründung des Staates wird zum (andauernden) Akt des Völkermords verdreht – wer könnte da noch Fragen stellen, welche Gründe, gut oder schlecht, es für welche seiner Handlungen geben könnte?
Es ist bemerkenswert, dass solche Reden von Gruppen gehalten werden, die sich in ihrer Selbsverortung sicher nicht als antisemitisch beschreiben würden und Islamist*innen zu ihren politischen Gegner*innen zählen. Allein, was hilft diese Selbstverortung, wenn am Ende dabei rauskommt, das üble Judenmörder*innen in den Kanon der „Internationalen Solidarität“ aufgenommen werden.
Es ist uns wichtig, deutlich zu sagen: Die Vorgänge auf dieser und vergangenen Demonstrationen halten wir für untragbar. Was hier passiert ist, dagegen wenden wir uns, wenn wir fordern, sich gegen jeden Antisemitismus zu stellen. Den Akteur*innen selbst dürfte das nichts Neues sein. Ihnen gelten wir jenseits jeder inhaltlichen Bedeutung des Begriffs als „Antideutsche“. Wir möchten aber andere Akteur*innen in Dortmund, NRW und darüber hinaus ermutigen, sich ebenfalls zu den Vorgängen zu äußern und diese Grenze deutlich zu machen.