Aufruf der Autonomen Antifa 170 zur Demonstration „10 Years Later“ am 28.03. Infos zur Demo findet ihr unter dortmund.blogsport.de
Am 04. April 2006 wurde Mehmet Kubaşık in seinem Kiosk an der Mallinckrodtstraße in Dortmund ermordet. Die Schüsse auf ihn waren Teil einer Mordserie, die über mehrere Jahre 9 Opfer zählte, und, wie wir heute wissen, von Neonazis verübt wurde, die sich selber „Nationalsozialistische Untergrund“ nannten.
Die Ermittlungsbehörden erkannten den Hintergrund des Mordes nicht, schlossen einen Zusammenhang mit der Dortmunder Naziszene gar aus. Stattdessen ermittelten sie im Umfeld der Opfer und verdächtigten sie der Verstrickung in kriminelle Machenschaften.
Dabei gab es Grund genug, eine Beteiligung von Neonazis zu vermuten. In den 6 Jahren vor der Tat hatte es in Dortmund bereits 4 Morde durch Neonazis gegeben. Gut ein Jahr vor der Tat war der Punker Thomas „Schmuddel“ Schulz in der U-Bahn Haltestelle Kampstraße erstochen worden.
Wir wollen anlässlich der Demonstration zum 10. Jahrestag des Mordes an Schmuddel auch Mehmet Kubaşık gedenken. Wir nehmen die Jahrestage der beiden Morde zum Anlass, gegen Rechte Gewalt zu demonstrieren und allen Opfern der Neonazis – 184 seit dem Jahr 1990 – zu gedenken.
Der doppelte Albtraum
Am 4. April 2006 wurde Mehmet Kubaşık in seinem Kiosk in der Mallinckrodtstraße 190 ermordet. Die Ermittlungen der Polizei zu der Mordserie trugen wenig zur Aufklärung der Tat bei, stattdessen wurden sie für die Angehörigen von Kubaşık zum Albtraum.
Der wichtigste Ermittlungsansatz der Polizei war die Einordnung der Taten als Milieukriminalität unter Migrant_innen. In dieser Logik wurde versucht, die Tatgründe in möglichen Verstrickungen des Opfers zu finden. Die Beamten unterstellten, Kubaşık sei in Drogengeschäfte verwickelt gewesen oder „fremd gegangen“, sie spekulierten über Verbindungen zur Mafia oder der PKK.
Ein rassistischer Hintergrund wurde nicht in Erwägung gezogen. Hinweise darauf, sowohl durch Angehörige der Opfer, als auch durch einzelne ermittelnde Beamte wurden durch die Polizei ignoriert. Dass der Polizei nicht die Idee kam, die Täter in der rechten Szene zu suchen, spekulative Verdächtigungen den Opfern gegenüber hingegen als realistische Ermittlungsansätze galten, zeigt den tief verwurzelten Rassismus dieser Behörde.
Unterstützer_innen in Dortmund?
Dass dieser Mord nur drei Menschen, nämlich Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, wie der sog. „NSU“ momentan definiert wird, zuzurechnen ist, ist mehr als unwahrscheinlich. Ganz im Gegenteil, es liegt die Vermutung nahe, dass sie über ein bestehendes Netzwerk von Unterstützer_innen in ganz Deutschland und möglicherweise noch darüber hinaus verfügten. Dies wird jedoch im aktuell laufenden Münchner Prozess von der Staasanwaltschaft konsequent ignoriert.
In Dortmund existierten Anfang des letzten Jahrzehnts gleich mehrere Gruppen, deren Ziel die Gewalt gegen politische Gegner_innen und Migrant_innen war. Im Umfeld der Rechtrock-Band Oidoxie entstand die „Oidoxie Street Fighting Crew“, die sich Informationen des VS zufolge 2000 mit Waffen ausrüstete. Die Gruppe, die offiziell vor allem die Security bei Konzerten von Oidoxie stellte, löste sich kurz vor dem Mord angeblich auf.
Ebenfalls aus dem Umfeld der Band Oidoxie und gegründet durch den Sänger der Rechtsrockband, Marko Gottschalk, existierte im Zeitraum 2005/2006 eine Zelle der Organisation „Combat 18“ (C18) in Dortmund. Combat 18 bildet den bewaffneten Arm von „Blood&Honour“, einem internationalen Netzwerk von Rechtsrockbands, -Produzenten und -Konzertgruppen, dessen deutscher Ableger im Jahr 2000 Verboten wurde, jedoch bis heute weiter aktiv ist.
Die Dortmunder C18-Gruppe veranstaltete Schießübungen und besorgte sich über Kontakte nach Belgien Waffen. Ideologische Grundlage für die Gruppe lieferte das Buch „Die Turner-Tagebücher“, welches die Geschichte einer fiktiven Untergrundorganisation schildert, deren Mitglieder antisemitische und rassistische Anschläge aus Kleinzellen im Untergrund heraus begehen.
Zu der “Oidoxie Street Fighting Crew” gehörten unter anderem auch Robin Schmiemann, dessen Briefverkehr mit Beate Zschäpe 2013 öffentlich wurde, und der ehemalige V-Mann und Neonazi Sebastian Seemann. Seemanns Tätigkeit als V-Mann flog auf, als Schmiemann mit einer Waffe, die er von Seemann erhalten hatte, einen Supermarkt überfiel, einen tunesischstämmigen Kunden niederschoss und anschließend von der Polizei gefasst wurde. Im folgenden Verfahren ging aus den Akten hervor, dass der Verfassungsschutz Drogengeschäfte von Seemann gegenüber der Polizei deckte. Seemann befindet sich seit seiner Entlassung mit neuer Identität im Zeugenschutzprogramm.
Der Unwille zur Aufklärung
Für die Staatsanwaltschaft des derzeit laufenden Münchner Prozesses ist dies jedoch offenbar nicht verfahrensrelevant. Seemann wurde laut den Nebenkläger_innen nach seiner ersten Befragung bei der Polizei kurz nach dem 4.11.2011 nicht mehr vernommen, außerdem soll der Vermerk über die Befragung Seemanns am 25.11.2011 in den Akten, die dem Gericht vorliegen, fehlen.
Die Bundesstaatsanwaltschaft sprach sich in einer Stellungnahme gegen die Beweisanträge der Nebenklage von 2014 aus, die eine weitergehende Aufklärung dieser Umstände forderten, mit der Begründung, “sämtliche der unter Beweis gestellten Tatsachen” seien “für das Verfahren ohne Bedeutung”. Das Trio (Zschäpe, Mundlos, Böhnhardt) sei eine “isolierte Zelle” gewesen, deshalb sei es fernliegend, dass sie Kontakt zu anderen Neonazistrukturen wie z. B. der Combat 18-Zelle in Dortmund gehabt hätte.
Dabei ist diese These von der isolierten Zelle längst wiederlegt. Es ist bekannt, dass der NSU auf ein Netzwerk von Helfer_innen zurückgreifen konnte, das Wohnungen organisierte, Ausweise zur Verfügung stellte oder bei der Beschaffung von Waffen half. Auch in ihrem Bekennervideo sprechen die Neonazis von ihrer Gruppe als einem Netzwerk. Dass dieses Netzwerk bis nach Dortmund reichte, ist anzunehmen.
Ein Haufen Versager?
Bei Berichten rund um den Zusammenhang von Verfassungsschutz und dem sog. “NSU” wird häufig von Fehlern oder einem Versagen der Behörden gesprochen. Doch bei der Vielzahl von geschredderten Akten, dem Nicht-Reagieren auf Hinweise oder dem gezielten Verhindern von Ermittlungen kann nicht mehr von einfachen Fehlern oder Versehen gesprochen werden. Es ist vielmehr so, dass der Verfassungsschutz selbst ein Problem ist.
Besonders deutlich wird dies beim 9. Mord des NSU. Nur zwei Tage nach den Schüssen in Dortmund wurde in Kassel Halit Yozgat in seinem Internetcafé erschossen. Am Tatort: Andreas Temme, ein Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutz. In den folgenden Ermittlungen schützte der VS seinen Mitarbeiter nach Kräften, indem Aussagegenehmigungen nicht erteilt wurden, die Befragung der von Temme geführten V-Leute verhindert und Temme konspirativ über den Stand der Ermittlungen informiert und für die Befragungen bei der Polizei gecoacht wurde. Abgehörte Telefongespräche, die vor einigen Wochen publik wurden, legen sogar nahe, dass Temme im Vorfeld gewusst haben könnte, dass in dem Internetcafé etwas passieren sollte.
Unser blinder Fleck
In Dortmund ist es antifaschistischen Initiativen und Einzelpersonen nicht gelungen, den Mord Mehmet Kubaşıks sowie die gesamte Mordreihe mit rassistischen Motiven in Verbindung zu bringen und eine kritische Öffentlichkeitsarbeit zu leisten. Und das, obwohl bereits 2006 sowohl in Dortmund als auch in Kassel die Familien der Opfer in Form von Demonstrationen auf die Zusammenhänge hinwiesen und Unterstützung einforderten.
Nach der Selbstenttarnung des sog. “NSU” hat es zwar einige Veranstaltungen und ein Papier zum Paradigmenwechsel bei der jährlichen Demo in Gedenken an Thomas Schulz gegeben, eine langfristige Strategie haben wir jedoch nicht gefunden. Die Demonstrationen gegen den VS sind im Sande verlaufen und auch der Vorsatz, künftig den Mord an Mehmet Kubaşık bei der Demonstration zum 28.03. zu thematisieren, wurde scheinbar vergessen.
Erst seit Spätsommer 2014 gibt es nun endlich eine Initiative in Dortmund, die sich intensiver mit dem Thema beschäftigt. „NSU-Komplex Auflösen Dortmund“ hat den Anspruch, einen Beitrag dazu zu leisten, sich aktiv an der Aufarbeitung zu beteiligen. Dies gilt in Hinblick auf Neonazis und ihre Aktivitäten sowie die Rolle der Behörden und der Geheimdienste. Es sollen Verbindungen des sog. “NSU” zu Dortmund aus einem antifaschistischen und antirassistischen Blickwinkel betrachtet werden. Wir begrüßen diese Initiative und hoffen, dass es gelingt, diese Leerstelle antifaschistischer Arbeit in Dortmund zu füllen.
Der Kampf geht weiter.
Der sog. “NSU” hat Mehmet Kubaşık ermordet. Thomas “Schmuddel” Schulz wurde vom bekannten Neonazi Sven Kahlin erstochen. Und heute, 10 Jahre später, dauern die neonazistisch motivierten Übergriffe noch immer an: Der Angriff auf das Rathaus letztes Jahr, die Schändung eines jüdischen Mahnmals an Silvester, die Verhöhnung von Anne Frank und Mehmet Kubaşık, die Todesdrohungen gegen diverse Journalisten und der Überfall auf einen von ihnen am 09. März. All diese Vorfälle zeigen auf, wie wichtig antifaschistische Arbeit in Dortmund weiterhin ist. Lasst uns unseren Widerstand auf die Straße und direkt zu den Nazis tragen!
Kommt am 28.03. nach Dortmund, um gemeinsam mit uns gegen rechte Gewalt zu demonstrieren und beteiligt euch an den Blockaden gegen den Naziaufmarsch am gleichen Tag. Kommt am 4.4. zur Mehmet Kubaşık Demo, um den Opfern des NSU zu Gedenken!
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