Im März haben wir einen Text geschrieben, der auf die jüngsten Entwicklungen in der Bewegung der Reichsbürger*innen eingeht und diese analysiert.
Die durch den Corona-Virus verursachte globale Krise überschattet derzeit wie wohl kaum ein anderes Ereignis politische Debatten in Deutschland. Dennoch kann die Linke in Deutschland es sich nur einen Monat nach dem terroristischen Anschlag in Hanau nicht leisten, die nach wie vor bestehende Gefahr der extremen Rechten aus den Augen zu verlieren. Einen Vorgang, auf den sich dieser Blick richten sollte, sind die Entwicklungen um die Reichsbürger*innen-Gruppe „Geeinte deutsche Völker und Stämme“.
Was ist passiert? Am 19. März führte die Polizei in insgesamt zehn Bundesländern Hausdurchsuchungen gegen führende Mitglieder besagter Gruppe aus, nachdem Heimat- und Innenminister Horst Seehofer diese verboten hatte. Die Kommunikationsstrategie von Ministerium, Verfassungsschutz und Polizeibehörde in diesem Zusammenhang zielt begleitend darauf ab, sich als konsequente Verfolger*innen von antisemitischen und rassistischen Verschwörungstheorien im Nachgang des Rechtsterrorismus‘ der letzten Monate zu präsentieren. Inwieweit dies glaubwürdig ist, ist mindestens anzuzweifeln. Wir lassen dies bei der weiteren Betrachtung aber außen vor. Fakt ist, dass zum ersten Mal eine den Reichsbürger*innen zuzurechnende Gruppe verboten wurde.
Inwieweit dies Auswirkungen auf die Szene hat, ist aktuell nur schwierig abzuschätzen. Diese Schwierigkeit resultiert hierbei nicht zuletzt aus dem, was der Begriff „Reichsbürger*in“ bezeichnend zusammenfasst. Beschäftigt man sich nämlich genauer mit „den“ Reichsbürger*innen, fällt auf, dass es nicht einfach ist, diese als eine zusammenhängende Bewegung zu beschreiben und auf einen Begriff zu bringen. Reichsbürger*innen sind weniger eine organisierte Bewegung, als vielmehr ein diffuses und extrem heterogenes Milieu, welches kaum klar einzugrenzen ist. Dieses Milieu besteht aus einer Vielzahl unterschiedlicher Gruppen und Einzelpersonen, welche zudem oftmals versuchen, sich voneinander abzugrenzen und sich selbst dabei jeweils als einzig legitime Gruppierung/ Einzelperson ansehen.
Zur gleichen Zeit können bei dieser Heterogenität einige argumentative Überschneidungen ausgemacht werden, welche gewissermaßen als zusammenhaltende Klammern angesehen werden können: Zentral zu nennen, ist die Nichtanerkennung der Bundesrepublik bei gleichzeitiger Überhöhung der Deutschen, ein starker Antisemitismus sowie eine damit verbundene Naturalisierung des Sozialen. Das meint, dass zwischenmenschliche Abläufe als naturgegeben verstanden werden.
Was heißt das genau? Um sich diesen Bestimmungen zu nähern, geht es nun darum, diese Punkte anhand der jüngst verbotenen Gruppierung „Geeinte deutsche Völker und Stämme“ deutlich zu machen. Einerseits wird somit die Perspektive dieses Beitrags konkret auf diese Gruppe und ihre Positionen gelegt. Andererseits wird zur gleichen Zeit anhand dieser Darstellung ein erster Blick auf übergreifende Erscheinungen im Reichsbürger*innen-Milieu ermöglicht. Wer waren nun die „Geeinte deutsche Völker und Stämme“? Organisatorisch handelte es sich um einen gut 120 Menschen umfassenden Verein, welcher von Heike Werding zentral organisiert wurde. Mitglieder und Unterstützer*innen sind im ganzen Bundesgebiet verteilt gewesen. Neben einigen öffentlichen Aktionen – vor allem im Raum Berlin – trat die Gruppierung zentral durch eine eigene Internetseite in Erscheinung, auf der die zentralen Positionen und Aktionen bekannt gegeben wurden.
Betrachtet man diese Positionen, ist auffällig, dass die „Geeinte deutsche Völker und Stämme“ im Verhältnis zur allgemeinen Wahrnehmung des Reichsbürger*innen-Milieus eine eigene Spezifik besaß. Während in der öffentlichen Wahrnehmung Reichsbürger*innen oftmals eigene Regierungen, Ministerien und Behörden ausrufen, eigene Dokumente mit angeblicher Gültigkeit ausstellen oder sich zum „obersten Souverän“ krönen lassen – inklusive Krone, Zepter und Übertragung auf YouTube – verfuhren Heike Werding und ihre Gruppierung durchaus anders. Vorrangig ging es darum, einen sogenannten „Naturstaat“ aufzubauen, welcher von autonomen Gebietskörperschaften getragen werden sollte. Legitimiert seien diese Gebietskörperschaften durch ein ausgerufenes „Recht der germanischen Erstbesiedlung“. Das Recht zum Aufbau eines eigenen Staatswesens erscheint somit als eine natürliche Sache, aus der sich ein politischer Anspruch ableiten lässt. Wie auch an anderer Stelle im Reichsbürger*innen-Milieu zu beobachten, wird Recht nicht als eine Kategorie sozialer Praxis – also als ein von Menschen gemachtes gesellschaftliches Verhältnis – angesehen. Stattdessen wird es gewissermaßen als eine aus der Natur selbst stammende außersoziale Kategorie verstanden: Recht erscheint so, als sei es natürlicherweise vorhanden und gültig. Wichtige Elemente dieses „Naturrechts für Reichsbürger*innen“ sind hierbei zum einen der Bezug auf den deutschen Boden und zum anderen die „germanische“ Abstammung. Dabei handelt es sich um Bezugspunkte, die als eine Art „Blut und Boden“- Logik angesehen werden können.
Während dieser Naturstaat als höchste Form des Zusammenlebens gilt, wird er mit der als unnatürlich bezeichneten Bundesrepublik konfrontiert: Die Welt der „Geeinte deutsche Völker und Stämme“ war somit in einem strikten Gegensatz von Natürlichkeit des Eigenen und Künstlichkeit des Anderen aufgeteilt – eine Zweiteilung, welche für das Reichsbürger*innen-Milieu im Allgemeinen als charakteristisch angesehen werden kann. Bei Betrachtung der Argumentation zeigt sich, dass bei diesem Gegensatz von Natürlichkeit und Künstlichkeit nicht stehengeblieben wurde. Vielmehr war dieser Grundmotiv verschiedener Zuschreibungen von Heike Werdings Gruppe.
Einer der wichtigsten Punkte war in diesem Zusammenhang ein offener Antisemitismus. Dem natürlichen Deutschen wurde eine unnatürliche und bedrohliche Macht entgegengehalten, welche in Juden*Jüdinnen gesehen wurde. Juden*Jüdinnen erschienen als übermächtige Repräsentant*innen der unnatürlichen Ordnung. Dies kann sich in unterschiedlicher Weise ausdrücken. Zum einen wurde das antisemitische Motiv bedient, Juden*Jüdinnen als hintergründige Herrscher*innen des Kapitalismus zu projizieren. Juden*Jüdinnen sind in diesem Verständnis die Urheber*innen des Kapitalismus‘. Wie in antisemitischen Diskursen nicht unüblich übten auch die „Geeinte deutsche Völker und Stämme“ eine personenbezogene und damit verkürzte Scheinkritik am Kapitalismus: Lediglich die abstrakte Seite des kapitalistischen Ware-Geld-Verhältnisses – also die Seite des Geldes bzw. die des Geldkapitals – wird benannt, um sie mit dem Judentum zu identifizieren. Gleichzeitig wird die so konkrete Seite des Kapitalismus‘ als nicht-kapitalistisch und natürlich imaginiert. Sie wird zum Bezugspunkt des eigenen Handelns stilisiert. Resultat der Scheinkritik ist Hetze gegen „die“ angeblichen jüdischen Finanzmächte und die angebliche Herrschaft der amerikanischen Juden*Jüdinnen.
Wie tiefgreifend der Antisemitismus saß und wohl immer noch sitzt, zeigte sich zum anderen, wenn Juden*Jüdinnen bei den „Geeinte deutsche Völker und Stämme“ zur allgemeinen Personifikation des Unnatürlichen erhoben wurden. Die als künstlich angesehene Bundesrepublik ist in diesem Verständnis nur Ausdruck der unnatürlichen Macht der Juden*Jüdinnen. Die Bundesrepublik wird als aus dem Handelsrecht abgeleiteter Scheinstaat verstanden. Sie ist gänzlich abhängig von amerikanischen Juden*Jüdinnen. Es ist kein Zufall, dass Antisemitismus und Antiamerikanismus auch im Milieu der Reichsbürger*innen eng verwoben sind. Gerade die als „unnatürlich“ konstruierten Alliierten und vor allem die vermeintlichen amerikanischen Besatzer*innen – welche angeblich über Deutschland herrschen – werden als Handlanger des Judentums oder als selbst jüdisch verstanden: Sowohl Amerika als auch das Judentum seien künstliche Mächte, welche das natürliche Recht und die natürliche Ordnung der Deutschen gefährdeten.
Die „Geeinte deutsche Völker und Stämme“ sahen sich in diesem Zusammenhang als zentrales Sprachrohr und Organisationspunkt der vermeintlich unterdrückten und betrogenen Deutschen. Ein Betrug, den es in ihrem Verständnis aufzuklären galt, damit die „guten“ Deutschen wieder zu ihrem Recht kämen. Anders als andere Gruppierungen sahen die „Geeinte deutsche Völker und Stämme“ dieses Recht eher als individuelles Naturrecht eines*einer jeden Deutschen und weniger als genuines Recht eines natürlichen Deutschen Reiches: Die Natürlichkeit des Staates folge aus der Natürlichkeit des einzelnen Deutschen.
Mit diesem umfassenden Anruf an die Natürlichkeit der Deutschen war eine sich selbst zugeschriebene Legitimation verbunden, gegen die unnatürliche Bedrohung aktiv zu werden und die eigene germanozentrisch-antisemitische Ordnung durchzusetzen. Hierbei birgt gerade die Vorstellung, sich in einem angeblichen Freiheitskampf gegen die unnatürliche Ordnung zu befinden, erhebliche Gefahren, da sie sich in antisemitischer und rassistischer Gewalt äußert oder diese legitimiert. Dieses Motiv führt nun im Folgenden unmittelbar zum Titel dieses Beitrages: „Reichsbürger*innen in der Krise?“
Auf der einen Seite ist das Verbot einer zentralen Gruppierung der Szene sicherlich mit Effekten verbunden. Von einer Krise des Reichsbürger*innen-Milieus zu sprechen, scheint jedoch falsch. Die Positionen der Gruppierung „Geeinte deutsche Völker und Stämme“ sind in ähnlicher Weise in der gesamten Szene zu finden: Das Verbot einer einzigen Organisation erscheint nahezu als hilflos. Diese Hilflosigkeit wird noch deutlicher, vergegenwärtigt man sich, dass nicht nur die Gruppierungen selbst, sondern die Verbreitung der jeweiligen Ideologie ein gefährliches Potential entfalten kann: Menschen, welche antisemitische, rassistische Einstellungen und eine naturalisierende Perspektive auf die soziale Welt haben, finden bei diesen Gruppierungen und ihren Veröffentlichungen ein ausgearbeitetes Weltbild. Ein Verbot einer Gruppierung stürzt ein umfassendes Weltbild kaum in die Krise. Zumal innerhalb dieses Weltbildes ein bundesstaatliches Verbot als Akt einer feindlichen Macht, nämlich eines nicht-legitimen Staates verstanden werden kann. Dies führt nur noch tiefer in dieses Weltbild hinein: Trotz der Richtigkeit staatlicher Handlungen gegen Reichsbürger*innen sind die Chancen, die Gefahren dieses Milieus hierdurch zu verhindern, äußerst gering.
Spricht man über die geringe Chance, den von den Reichsbürger*innen ausgehenden Gefahren in absehbarer Zukunft Herr zu werden, muss noch auf einen weiteren Punkt verwiesen werden: Der Titel „Reichsbürger*innen in der Krise?“ deutet an, dass Reichsbürger*innen auf die durch das Corona-Virus hervorgerufenen Krisenerscheinungen und die wahrscheinlich noch eintretenden Krisenerscheinungen in naher Zukunft sich einen eigenen Reim machen werden. Gemäß ihrer Weltsicht, in der alles Schlechte in der Welt auf das konkrete Handeln unnatürlicher Mächte zurückgeführt werden kann, ist anzunehmen, dass auch die derzeitige globale Krise in diesem Sinne verstanden wird. Schon jetzt ranken sich in verschwörungstheoretischen Internetforen – und Reichsbürger*innen sind nichts anderes als eine spezifisch deutsche Erscheinung von Verschwörungstheoretiker*innen – diverse „Theorien“ über Corona: Corona wird als biologische Waffe, wahlweise der USA, Israel, China oder dunklen Mächten im Allgemeinen gesehen.
Da zum heutigen Zeitpunkt kaum abzusehen ist, welche sozialen Verwerfungen aus der derzeitigen Pandemie folgen werden, ist die genaue Krisenreaktion von Seiten der Reichsbürger*innen nicht präzise zu bestimmen. Indem aber die eingebildete Herrschaft einer vermeintlichen Weltverschwörung für Reichsbürger*innen immer eine Art des subjektiv wahrgenommen Ausnahmezustandes ist – ein Ausnahmezustand, welcher künstlich erzeugt und gegen deren angebliche „Drahtzieher“ es sich zu wehren gelte – ist zu vermuten, dass in Situationen einer realen globalen Krise, die reale Ausnahmezustände und autoritäre Krisenlösungsstrategien erzeugt, Reichsbürger*innen die Krise in ganz eigenen Kategorien interpretieren werden. Solche Interpretationen können die Realität verzerren und Ressentiment-geladene Reaktionen hervorrufen, welche nicht zuletzt in Gewalt gegen eingebildete Schuldige umschlagen können.