Foto: David Peters
Ein Jahr nach dem Anschlag von Halle. – Auf der Kundgebung gegen Antisemitismus in der Dortmunder Innenstadt hielten wir einen Redebeitrag zu Verschwörungsmythen, ihrer Rolle im modernen Antisemitismus und ihrer Scharnierfunktion zu rechtem Terror wie in Halle, Coronademos und Co.
Bloß ein Déjà-vu? Wie ihr vielleicht bemerken werdet, ähnelt dieser Beitrag in Teilen unserer Rede bei der Kundgebung des Bündnisses „Grenzenlos Solidarisch“. Das liegt einerseits an den thematischen Schnittmengen der Beiträge und andererseits daran, dass wir den Beitrag für ganz gut gelungen halten. Dennoch enthält dieser Beitrag auch einige neue Punkte. Lesen lohnt sich also trotzdem!
Ein Popsänger, ein Kochbuchautor und ein ehemaliger Radiomoderator gehen in eine Bar…
Am Ende des Abends bildet sich der Popsänger Geschichten über Geheimbünde ein, die Kinderblut trinken und heult dazu in die Kamera. Der Kochbuchautor hält sich für einen Samurai, will in den bewaffneten Untergrundkampf ziehen, wird in Berlin allerdings von einem Platzverweis der Polizei gestoppt. Der ehemalige Radiomoderator macht den Mundschutz als „Maulsperre“ oder gar „neues Hakenkreuz“ aus und ruft dazu auf, keinen zu tragen – trägt dann aber selbst einen Mundschutz und versteckt sich unter einer Decke, damit das niemand mitkriegt.
Klingt alles sehr schrullig und vielleicht ein bisschen komisch. Das Problem: alle drei Personen erreichen ein großes Publikum, dass auf die Geschichten, die die drei erzählen, begeistert anspringt. Diese Geschichten nennen wir Verschwörungsmythen und sie sind ein Grund, warum wir heute hier stehen. Sie sind leider nicht ganz so neu, wie es in unserer kleinen Geschichte wirkt.
Erzählungen, die behaupten, hinter komplexen sozialen und geschichtlichen Prozessen einzelne diabolische Verantwortliche ausmachen zu können, gehören seit Jahrhunderten zur menschlichen Historie. Neu ist auch nicht ihre zentrale Rolle innerhalb antisemitischer und extrem rechter Ideologie oder ihre Legitimierungsfunktion insbesondere für Gewalt gegen und Morde an Menschen, die in dieser Ideologie als existentiellen Feind*innen markiert werden.
Das trifft auch auf den Täter des antisemitischen, rassistischen und antifeministischen Anschlags in Halle vom 9. Oktober 2019 zu. Die Auswahl des Anschlagsziels erfolgte nach verschwörungsideologischen und antisemitischen Kriterien. Als angebliche Vertreter*innen einer angeblichen „jüdischen Weltverschwörung“, die angeblich hinter Migration und Feminismus stecke, erschienen ihm Juden*Jüdinnen, die an Jom Kippur die Synagoge im Paulusviertel besuchten, in geballter Menschenverachtung als „lohnenderes“ Ziel als eine Moschee oder ein vermeintliches „Antifa-Zentrum“.
Die verschwörungsideologische Vorstellung, Juden*Jüdinnen würden die Welt kontrollieren und seien für alles Übel verantwortlich, ist Dreh- und Angelpunkt des modernen Antisemitismus. Sie ist außerdem Grundriss für den Großteil aller Verschwörungsideologien, die mal mehr mal weniger offen jüdische Menschen als vermeintliche Drahtzieher*innen benennen, und sie ist zentral für die extreme und insbesondere die neonazistische Rechte. Wie der Täter von Halle teilen sie die Überzeugung, dass die Probleme allen Übels die Juden seien.
Verschwörungsideologien erfüllen eine Scharnierfunktion. Sie bieten – insbesondere in ihrer antisemitischen Ausprägung – eine Schnittmenge zwischen Neonazis, Esoterikfans, religiösen Fundamentalist*innen, der AfD und viel zu vielen Menschen in jeder Sphäre der Gesellschaft. Wem hier die Parallele zur Zusammensetzung der sogenannten Coronademos auffällt, liegt richtig. Auch dort sind es vor allem die Verschwörungsideologien, die die unterschiedlichen Spektren in unheilvollen Allianzen zusammenschweißen.
Für uns Linke, als Antifaschist*innen, als Menschen, die sich mit den Betroffenen von Antisemitismus solidarisieren, gilt es, Verschwörungsmythen als Scharnier, als Radikalisierungsmotor in den Blick zu nehmen. Es gilt, ihnen wie auch dem Antisemitismus nicht nur mit Sonntagsreden und – so wichtig sie auch sein mögen – nicht nur mit Solidaritätsbekundungen zu begegnen, sondern ihnen dort entgegenzutreten, wo sie sich artikulieren. Mit Kritik und dem Angebot einer Perspektive von Gesellschaft, in der niemand seine Feiertage hinter verschlossenen Sicherheitstüren und Polizeischutz abhalten muss, wo der Dialog noch möglich ist und mit allen gebotenen Formen konsequenten Protests, wo das keine Option mehr ist. Es gilt, die Handlungsräume für Verschwörungsideolog*innen und Antisemit*innen, in denen sich die nächsten Attentäter*innen radikalisieren, dichtzumachen.
Gegen Verschwörungsdenken und jeden Antisemitismus!
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