– Als die grauen Busse kamen.- Zur Geschichte der Entmenschlichung im Nationalsozialismus, der Aktion „T4“ und deren Folgen für Menschen in Dortmund.

Heute vor 82 Jahren, am 27. Spetember 1940, wurde die Dortmunder Jüdin Lea Turteltaub ins Euthanasiezentrum in Brandenburg an der Havel deportiert und noch am selben Tag ermordet. Mit ihr wurden weitere 157 jüdische Patient:innen von Wunstorf nach Brandenburg verlegt und ebenfalls am selben Tag ermordet. Sterbeurkunden wurden erst Monate später ausgestellt, damit die Familienangehörigen der Ermordeten weiterhin die Kosten für die vermeintliche Unterkunft übernahmen. Deportiert wurden die Juden:Jüdinnen auf Anweisung des Reichsministers des Inneren Wilhelm Frick. Lea Turteltaub war aufgrund ihrer jüdischen Herkunft sowie ihres Status als Langzeitpatient:in in den Selektionen in den Heilanstalten direkt doppelt gefährdet. Bereits ab 1940 wurden jüdische Patient:innen gezielt ermordet.

Die Mutter von vier Kindern aus der Dortmunder Nordstadt verbrachte ihr Leben seit 1933 in zwei verschiedenen Heil und Pflegeanstalten und sollte eigentlich wegen ihrer diagnostizierten Schizophrenie behandelt werden. Sie ist eines von schätzungsweise 216.000 Opfern der Euthanasieprogramme der Nationalsozialist:innen. Zusätzliche 400.000 Menschen wurden wegen psychischen Erkrankungen oder körperlichen sowie geistigen Behinderungen sterilisiert.

Die Abwertung von krankem und behindertem Leben ist kein Phänomen, dass erst der Nationalsozialismus erschaffen hat oder das danach endete. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts wurde sich mit der Frage beschäftigt, welches Leben lebenswert sei. Wegbereiter dafür waren beispielsweise der Naturforscher Francis Galton, zum Teil auch der Evolutionsbiologe Charles Darwin. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde die Zwangssterilisation in einigen Ländern angewandt, mindestens aber diskutiert. Später im Nationalsozialismus wurden mindestens 400.000 Menschen wegen psychischen Erkrankungen oder körperlichen sowie geistigen Behinderungen sterilisiert.

Vor allem nach dem Ersten Weltkrieg wurden Stimmen lauter, die eine Vernichtung sogenannten lebensunwerten Lebens forderten. Der Zeitpunkt war kein Zufall: Gerade der Erste Weltkrieg sorgte durch die große Zahl an Kriegsgeschädigten für einen Aufschwung der Euthanasiebewegung, da Behinderte und Kranke als Belastung für Gesellschaft und Sozialstaat angesehen wurden. Dieser Gedanke wurde später durch die Nationalsozialist:innen mit einer eigenen Kampagne dazu weitergeführt. Schon dabei wurde von Ballastexistenzen und geistig Toten gesprochen. Jüdische Patient:innen wurden teilweise eingewiesen, nachdem sie wegen Misshandlung durch die nationalsozialistische Gesellschaft in psychisch schlechter Verfassung waren.

Sterilisation von vermeintlich erbkrankem Leben:

Der April 1934 war der Beginn der Erfassung von sog. erbkrankem Leben durch das Dortmunder Erbgesundheitsgericht in der Aplerbecker Heilanstalt. In den ersten Jahren des NS war in Dortmund die Anzahl an Schizophreniker:innen unter den Erbkranken überdurchschnittlich hoch (77%), gefolgt von der Diagnose Schwachsinn (12%). Während des Nationalsozialismus fiel der Prozentsatz, der als erbkrank eingestuften und damit potentiell zur Sterilisation bestimmten Patient:innen nicht unter 40%, was unter anderem wohl auch finanzielle Gründe hatte: Viele Patient:innen wurden nach der Sterilisation ohne weitere Behandlung entlassen – es mussten also keine weiteren Therapiemaßnahmen getätigt werden. Zur selben Zeit wurden die Finanzmittel der Kliniken reduziert und die Einrichtungen angehalten, ihre Patient:innen zu vernachlässigen. Sterilisiert wurde in Dortmund in den Provinzialheilanstalten in Aplerbeck, in den städtischen Krankenanstalten, im städtischen Krankenhaus Dorstfeld, in evangelischen Krankenhäusern und bei weiteren zugelassenen Ärzt:innen. Insgesamt wurden bis 1945 3.500 Dortmunder:innen zwangssterilisiert. Wenige Patient:innen wehrten sich erfolgreich gegen die Sterilisation. Viele kamen aus dem unteren gesellschaftlichen Milieu und wussten nicht, dass es zumindest theoretisch eine Möglichkeit gab, dagegen vorzugehen. Besonders für Frauen waren die Eingriffe gefährlich, zum Teil tödlich (ca. 1,4% aller Sterilisierten starben).

Widerstand gegen die Zwangssterilisation gab es mit Ausnahme passiven Widerstands der katholischen Kirche kaum. Keine medizinische Institution in Deutschland stellte sich gegen die Zwangsterilisierung.

Die Aktion T4 und die dezentrale Euthanasie:

Der mangelnde Erfolg der massenweisen Zwangssterilisation führte ab 1939 zu einer entscheidenen Radikalisierung in der Euthanasiepraxis. Schon vor Kriegsbeginn starben in den Heilstätten Menschen durch die schlechte Versorgung, doch mit dem Kriegsbeginn startete eine lang geplante, organisierte Vernichtung von vermeintlich unwertem Leben. Monate zuvor waren Verantwortliche zum Schluss gekommen, behinderte und psychisch kranke Menschen seien am effektivsten mit Kohlenstoffmonoxid zu vergiften. Für die Organisation wurde eine Dienststelle mit verschiedenen Unterabteilungen geschaffen. Ihr Sitz war die Tiergartenstraße 4 in Berlin, weshalb die Aktion T4 genannt wird. Eine wichtige Rolle spielten dabei die einzelnen Heilstätten und Psychatrien, die die Rolle der Diagnostik und damit auch die der Entscheidung über Leben und Tod übernahmen. Die eigentliche Aktion T4 begann am 18.01.40 in der ersten Tötungsanstalt Graveneck. Dazu kamen weitere fünf Vernichtungsstätten, unter anderem Hadamar. Bis zum offiziellen Euthanasiestopp im August 1941 wurden 70.273 Menschen Opfer der behindertenfeindlichen Vernichtungsideologie der Nationalsozialist:innen. Warum im August 1941 die T4 Aktion offiziell beendet wurde, kann nicht genau gesagt werden. Verschiedene Begründungsansätze sind einerseits die Proteste von katholischen Geistlichen sowie die zuvor festgelegte Anzahl an durchzuführenden Morden.

Nach dem Euthanasiestopp wurden Behinderte und Kranke, sowohl Erwachsene als auch Kinder, weiterhin in der sogenannten dezentralen oder wilden Euthanasie ermordet, entweder durch Medikamentenüberdosen oder durch strukturelles Unterernähren von Patient:innen. Auch die Heilanstalt Aplerbeck war Teil der dezentralen Euthanasie. Vor allem jüdische Menschen und Sinti:za und Romani sowie Langzeitpatient:innen und arbeitsunfähige Menschen waren besonders gefährdet. Ärzte, die bereits in der Euthanasie mitgewirkt hatten, übernahmen in der Shoah Aufgaben in den Vernichtungslagern Treblinka, Sobibor und Auschwitz.

Euthanasie in DortmundAplerbeck:

Aus der Aplerbecker Heilanstalt wurden Ende Juli 1941 zwei Deportationen in die Tötungsanstalt Hadamar durchgeführt. Alle der 95 Patient:innen wurden in den nächsten Tagen dort ermordet. Die zweite Deportation endete durch den offiziellen Euthanasiestopp“ nicht mehr in Hadamar. Das bedeutete allerdings nur eine vorübergehende Rettung. Die Deportierten wurden in Zwischenheimen durch Medikamente oder Essensentzug getötet oder wurden – wenn sie bis dahin überlebten 1943 in Hadamar durch Spritzen mit überdosierten Medikamenten ermordet, nachdem man die Vergasungsmechaniken dort abgebaut hatte. Nach der Bombardierung Dortmunds wurden im Juni 1943 die arbeitsunfähigen Patient:innen aus Dortmund deportiert, um Platz für die verletzten Restdortmunder:innen zu schaffen. Nur den Verlegungen nach Hadamar und Meseritz können klare Tötungsabsichten zugeschrieben werden, doch auch die anderen als arbeitsunfähig eingestuften Patient:innen aus Westfalen, die vor allem nach Süddeutschland deportiert wurden, sind vermutlich durch bewusst nährstoffarme Kost und Überdosen an Beruhigungsmitteln gestorben. Nur 300 der insgesamt 2846 in den beiden Jahren 1941 und 1943 Deportierten überlebten das Kriegsende und wurden nach Westfalen zurückverlegt.

Die Kinderfachabteilung der Aplerbecker Heilanstalt:

Am 16. Mai 1941 wurde in Dortmund die Errichtung einer Kinderfachabteilung in der Heilanstalt in Aplerbeck beschlossen. Diese sollte die geistig erkrankten Kinder Westfalens aufnehmen, um diese einer genauen Selektion unterziehen zu können. Dazu wurde der Direktor, der Gegner der Euthanasie war, ausgetauscht gegen Dr. Fritz Wernicke, der bereits in Polen an der Ermordung geistig Erkrankter mitgewirkt hatte. Auch der Pastor wurde ersetzt. Eingewiesene Kinder wurden, ungleich zu den Erwachsenen, bei denen ein Blick in die Akten über eine Deportation in eine Vernichtungsanstalt entschied, über mehrere Monate beobachtet. Diese Beobachtungen sowie weitere Blutuntersuchungen entschieden dann darüber, ob die Kinder ermordet, entlassen oder weiter therapiert wurden. Eine Ausnahme stellten Kinder mit deutlich sichtbaren körperlichen oder geistigen Behinderungen dar. Aus dieser Gruppe überlebte kein Kind die vermeintliche Behandlung in Aplerbeck. Ein Beispiel war der 13-jährige Manfred Bernhardt, der 1929 in eine Arbeiter:innenfamilie in der Nordstadt geboren wurde. Er hatte Epilepsie und konnte nicht sprechen. Im November 1942 wurde er eingewiesen, versprochen wurde ihm – wie im Übrigen vielen Kindern – eine Ausbildung in der Landwirtschaft. Im Juni 1943 war er tot.

Fehlende Aufarbeitung:

An den an der Euthanasie beteiligten Ärzt:innen sehen wir ein klassisches Phänomen der Entnazifizierung: Nach Kriegsende arbeitete Wernicke weiterhin als Arzt, er wurde als Mitläuer ohne Beschäftigungsbeschränkung eingestuft. Dr. Niebel, der als Leiter der Kinderfachabteilung für die Selektion verantwortlich war, wurde 1957 Landesobermedizinalrat. Das Töten von kranken und behinderten Kindern und Erwachsenen hatte für beide keine Konsequenzen.

Die Opfer der Sterilisation erhielten bis heute keine Entschädigungen für ihr Leid. Bis 1974 bestand das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses in Teilen formal in der BRD fort. 1988 wurde das Zwangsterilisationsgesetz zum NSUnrecht erklärt, erst 2007 vom Parlament geächtet. Die Debatten bis in die 60er Jahre waren häufig geprägt von einer grundsätzlichen Befürwortung der Zwangsterilisation. U.a. diese Debatte zeigt den gesellschaftlichen Rahmen auf, in dem damals wie heute über Behinderte und psychisch Kranke geurteilt wurde bzw. wird. Die Ablehnung von Kranken und Behinderten ist weder damals noch heute ein Alleinstellungsmerkmal von Rechten. Behindertenfeindlichkeit reicht tief in die Mitte der Gesellschaft, sei es zum Beispiel durch die behindertenfeindliche Sozial- und Pflegepolitik.

Was wir über die Ermordung von Kranken und Behinderten wissen, beschränkt sich häufig auf den einen Absatz im Geschichtsbuch dazu. Es wird viel zu wenig Wissen zur Aktion T4 und dessen Vorläufer sowie dessen Weiterführung vermittelt. Auch wir als Linke können uns nicht frei von Behindertenfeindlichkeit machen. Für uns gilt es, behindertenfeindliche Denkmuster an uns selbst zu entlarven und zu reflektieren.

Abschließend wollen wir zurück zur Familie Turteltaub kommen und an deren trauriges Schicksal erinnern: Von Lea Turteltaubs Kindern überlebte nur eines, ihr jüngster Sohn Benno, die Shoah, ihr Sohn Josef erlebte zwar die Befreiung Theresienstadts, starb aber kurz darauf an den Folgen der Gefangenschaft. Ihre Tochter Rosa und ihr Mann Isaak wurden vermutlich ermordet. Ihr Sohn Max wurde am 16. Juli 1943 in Sobibor ermordet. Nur eine von unzähligen Familien, die durch die Nationalsozialist:innen fast vollständig ausgelöscht wurde.

Foto: Klaus Hartmann / nordstadtblogger.de

Wir hoffen, wir konnten durch diesen Text zumindest einen kleinen Beitrag leisten, diese Wissenslücke zu füllen. Anbei eine Liste mit Literatur zu dem Thema:

„Lebensunwert – Die Heilanstalt Aplerbeck und ihre Kranken im Nationalsozialismus“ von Uwe Bitzel

https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/295244/vor-80-jahren-beginn-der-ns-euthanasie-programme/

Broschüre zur Bildung von Schulklassen der Gedenkstätte Hadamar 

https://www.gedenkstaette-hadamar.de/bildung/materialien-zur-vor-und-nachbereitung/ 

“ „Euthanasie“ im NS-Staat“ von Ernst Klee 

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